Durch die Wasser-Hölle von Kap Horn: Kapitän Gustav Klaus Lührs erzählt von seinen persönlichen Erlebnissen auf der „Greif“, einem Dreimast-Vollschiff, mit dem er ums Kap Hoorn segelte – ein lebensgefährlicher Törn.
Der alte Mann hütet das kleine Buch wie seinen Augapfel. Der graue Pappeinband ist an den Ecken abgestoßen, die Seiten sind vergilbt. Aber trotzdem würde er es nie wegwerfen, denn es stammt aus der Zeit, als der alte Mann noch ein Jungspund war. Das kleine Buch ist stummer Zeuge eines großen Lebens. Des Lebens von Gustav Klaus Lührs (* 04.12.1910, † 19.01.2005) aus Wedel bei Hamburg. Es führte ihn in die entlegensten Winkel der Welt. Der kleine, graue Band ist ein Seefahrtsbuch; jede Seite eine Reise, jede Reise eine – nein, jede Seite ein Dutzend Geschichten.
Hinter dem Blatt mit der Nummer 11 verbirgt sich eine der aufregendsten Fahrten – jene, die aus dem Schiffsjungen Gustav Lührs einen Kap Hornier machte.
Mit 16 heuerte er auf der GREIF an
„Es war 1926. Ich war 16 Jahre alt, als ich auf dem Vollschiff ,Greif‘ anheuerte“, sagt Lührs. Die „Greif“ war ein über 100 Meter langes Segelschiff, ein Windjammer wie aus dem Bilderbuch. „Ich wollte Kapitän werden, dazu mußte ich zwei Jahre auf einem Segler fahren“, so Lührs.
Am 9. September 1926 sticht die „Greif“ in See. Das kleine, graue Buch: „Reise von Valencia nach Australien, weiter und zurück.“ Lührs: „Wir hatten nur Ballast an Bord, 1200 Tonnen Sand.“ Das war nötig, weil das Schiff sonst umgekippt wäre. Kurs: Südwest, mit dem Nordost-Passat an Madeira und den Kanarischen Inseln vorbei bis kurz vor die südamerikanische Küste. Dann geht es mit der Westwind-Trift nach Osten.
„Bis dahin war es eine ruhige Reise. Ich lernte viel.“ Kapitän Richard Sietas zeigt ihm, wie Taue gespleißt werden und Segel gesetzt. Lührs: „Ich musste den Mast hoch; 40, 50 Meter bis in die höchsten Rahen. Eine Plackerei, aber ein wunderschöner Ausblick!“
Am 30. Oktober wird der Äquator passiert, und ein Meeresgott taucht auf und tauft. Die Urkunde hat Lührs heute noch: „Wir, Neptun, Beherrscher aller Meere, Seen, Flüsse, Teiche, Bäche Pfützen, Dachrinnen sowie aller alkoholischen Getränke bescheinigen hiermit, daß der zur Förderung des Haarwuchses auf der Brust zur See geschickte Junge Gustav Lührs vom Schmutze und Kot der Nordhalbkugel gereinigt die heilige Taufe empfangen hat.“ Gustav bekommt den Namen „Krabbe“ und scheuert sich den Teer runter, mit dem ihn seine Kameraden eingeschmiert hatten. Dabei hat er’s noch leicht, weil er sich zuvor mit Fett eingerieben hatte. Einem Passagier jedoch war dieser Trick verschwiegen worden: „Der schrubbte noch in Australien.“
Nach 10 Wochen in Australien
Nach nur 69 Tagen ist der fünfte Kontinent erreicht. Weihnachten wird in Port Pirie gefeiert. „Mit einem Stock und grün angemalten Manila-Tampen daran als Tannenbaum, mit Musik vom Grammophon und ’ner Buddel Schnaps vom Alten“, erinnert sich Lührs.
In Port Pirie wird auch Ladung genommen; 3000 Tonnen Getreide für Falmouth. Bei der Verladung der Säcke ahnt noch keiner der 20 Mann starken Besatzung, welches Inferno über die „Greif“ hereinbrechen sollte.
„Anker auf!“ heißt es am 31. Januar 1927. Mit dem Westwind, der hier an 90 von 100 Tagen bläst, läuft die „Greif“ mit acht, neun Knoten in den Herbst der Südhalbkugel. Nur zwei Wochen schmeckt Schiffsjunge Lührs zum ersten mal ein bisschen was von der Macht des Meeres. Er notiert in sein Tagebuch: „Weststurm. Liegen vor Marssegel und Fock. Viel Wasser an Deck.“
Wasser an Deck – das ist eines der größten Probleme. Wenn die riesigen Brecher das Schiff überrollen, kann das Wasser durch die Löcher des mannshohen Schanzkleides, der Reling abfließen. Lührs: „Zwar sind Strecktaue von vorne nach achtern gespannt, aber greif‘ die ‚mal, wenn du bis zum Hals im Wasser schlidderst.“
Wind brist auf zu Orkan
So nimmt das Verhängnis seinen Lauf, am 5. März des Jahres 1927; irgendwo zwischen dem 70. und dem 80. Grad westlicher Länge. Das Tagebuch des Schiffsjungen: „Wind brist auf zu einem orkanartigen Sturm. Mittags reißt sich das Rettungsboot los und wird gegen den Davit geworfen. Hühnerstall zertrümmert. Schiff steht bis zum Schandeckel voll Wasser. Beidrehen nicht mehr möglich.“ Und dann die Tragödie, beschrieben mit nüchternen Worten: „Beim Laschen des Bootes wird ein Matrose über Bord gespült und kann nicht gerettet werden.“ Lifelines und Rettungswesten: heute Selbstverständlichkeiten – damals Zukunftsmusik. Die Crew sieht den Matrosen Ernst Jönk noch einmal kurz auftauchen, 60 Meter hinter dem Heck, und dann nimmt die See ihn für immer. Der blanke Hans hat sein erstes Opfer!
Aber es sollte nicht sein letztes sein. Nur ein paar Stunden später schlägt das Schicksal erneut zu. Lührs notiert: „Nachmittags gegen 5 Uhr wird das Schiff von einer dwarslaufenden See von Steuerbord überrollt. Beide vorderen Boote werden über Bord gespült oder zerschlagen. Der Matrose Böge wurde von der See über Bord gespült. Keine Rettung möglich. Schiff läuft 10 -11 Knoten.“ Lührs erinnert sich: „Er hatte noch gescherzt ,Was nützt dem Seemann all‘ sein Geld, wenn er doch ins Wasser fällt.‘ Eine Stunde später lag er drin.“
Es geht ums nackte Überleben
Doch für Trauer oder gar Angst ist keine Zeit. In der Wasser-Hölle geht es ums nackte Überleben. Beinahe 14 Tage tobt der Sturm fast ununterbrochen. Und dann bricht das Schanzkleid. Lührs: „Sechs beindicke Stahlpfähle – auf Schlag wie abgesägt.“
Es folgt ein Wettlauf gegen die Zeit. Bei tosendem Wind und immer wieder überholenden Brechern hängt die Crew Holzfender an beiden Seiten außenbords, spannt Ketten dazwischen und zieht die auseinanderbrechende Bordwand wieder zusammen – eine schier übermenschliche Leistung. Als hätte Neptun ein Einsehen, flaut der Sturm danach ab. Und den Lohn des Wassergottes beschreibt der Schiffsjunge trocken im Tagebuch: „21. März. Bramsegel fest. Sichten morgens die Insel Diego Ramirez. Mittags Kap Horn dwars in Sicht.“ Ab jetzt ist es nicht mehr nur ein Schiffsjunge, der das Tagebuch weiterführt – es ist ein Kap Hornier.
Die Rückreise verläuft problemlos. Am 7. Juni läuft die „Greif“ in Falmouth fest. Und Kapitän Sietas schreibt Lührs ins Zeugnis: „…zeigte sich diensteifrig, tüchtig und zuverlässig. Ich kann Gustav Lührs in jeder Hinsicht als tüchtigen jungen Menschen bestens empfehlen.“ Und dieses Blatt liegt heute noch sauber gefaltet in einem kleinen, grauen Buch mit abgewetzten Ecken.